Ist “Gewicht machen” richtungsweisend?

Alle Jahre wieder werden im Frühjahr unzählige Artikel über die perfekte Figur und eine damit einhergehende Ernährung publiziert. Blogeinträge ergänzen die Berichte durch persönliche Erfahrungen und gut gemeinte Ratschläge.

Während die einen von einer tageslichttauglichen Bikinifigur beziehungsweise dem angestrebten Waschbrettbauch träumen, setzen sich Profis wie auch ambitionierte Altersklassenathleten in den verschiedensten Sportarten mit dieser Thematik immer dann intensiv auseinander, wenn der Saisonhöhepunkt näher rückt.

Während es beispielsweise bei den Judoka, Ringern oder Boxern darum geht, in einer bestimmten Gewichtsklasse antreten zu dürfen, erhoffen sich Sprinter und Ausdauersportler schnellere Zeiten. Allerdings können beim „Gewicht machen“ auch Grenzen überschritten werden. Hinter vorgehaltener Hand wird zwar darüber gesprochen, jedoch gelangen Details nur selten in die Öffentlichkeit. 2012 überraschte die Britin Hollie Avil die Szene mit einem für viele überraschenden Rücktritt vom Leistungssport. Im Alter von nur 22 Jahren, kurz vor den Olympischen Sommerspielen in London, beendete die U23-Weltmeisterin von 2009 ihre Karriere. Ursache: Ermüdungsbrüche in beiden Schienbeinen und Depressionen, verursacht durch Essstörungen.

Holly-Avil_Delly Carr | triathlon.orgHollie Avil, U23-Weltmeisterin von 2009, verkündete im Mai 2012 im Alter von nur 22 Jahren ihren Rücktritt vom Leistungssport. Die Britin litt jahrelang unter Essstörungen.

Foto: © Delly Carr | triathlon.org

Wir trafen und mit dem Crailsheimer Sportmediziner Dr. med. Christoph Simsch und unterhielten uns mit ihm über das Thema „Gewicht machen“.

Herr Dr. Simsch, gibt es ein Idealgewicht für Ausdauersportler?
Das Körpergewicht spielt insbesondere in den Sportarten eine bedeutende Rolle, in denen es Gewichtsklassen gibt, zunehmend aber auch im Ausdauersport und in Disziplinen, in welchen der eigene Körper möglichst schnell bewegt werden soll. Glücklicherweise sind wir alle Individuen, und somit existiert auch ein individuelles optimales Körpergewicht beziehungsweise eine ideale Körperzusammensetzung. Nach umfangreicher Durchsicht der medizinischen Datenbanken stellt man jedoch fest, dass es weder ein explizites allgemeines Idealgewicht noch eine allgemeine Beschreibung darüber gibt, was jetzt ideal ist und was nicht. Frauen beispielsweise haben naturgemäß einen höheren Fettanteil als Männer. Ihr Körper reagiert auch im negativen Sinne schneller auf einen zu niedrigen Body-Mass-Index (BMI) oder Körperfettanteil. Das Alarmsignal sollte immer eine Änderung wichtiger physiologischer Vorgänge sein: Das Ausbleiben der Regelblutung oder die Entwicklung einer manifesten Schilddrüsenunterfunktion sind in diesem Zusammenhang wichtige Indikatoren. Bei den männlichen Athleten lässt sich festhalten, dass der Körperfettanteil mit abnehmender Testosteronproduktion, also mit zunehmendem Alter, ansteigt.

Kann sich die Reduzierung des Körpergewichts tatsächlich leistungssteigernd auswirken?
Um diese Frage beantworten zu können, sind zwei Aspekte zu berücksichtigen: Fettgewebe – und ich denke, wir sind uns einig, dass wir ausschließlich über die Reduktion von Fett sprechen – ist unnötiges Gewicht, das bewegt werden muss. Allerdings ist das Fettgewebe nicht nur ein Energiespeicherorgan, das uns passiv ummantelt, sondern auch ein wichtiges stoffwechselaktives Organ. Nahezu monatlich werden neue Hormone entdeckt, die in der Fettzelle gebildet werden und den Energiestoffwechsel beeinflussen. Der vielleicht wichtigste Parameter, der die Leistungsfähigkeit eines Sportlers beschreibt, ist die maximale Sauerstoffaufnahme (VO2 max). Diese wird berechnet aus der Menge an Sauerstoff, die pro Minute und pro Kilogramm Körpergewicht aufgenommen wird. Studien an Spitzenradfahrern und Triathleten beschreiben, dass sich nach einer gewissen Trainingszeit die maximale Menge nur noch unwesentlich ändert. Lediglich eine Reduktion des Körperwichts lässt dann noch eine Steigerung der VO2 max zu. Leider kursieren im Internet auch Kalkulatoren, mit denen man seine Laufleistung errechnen kann, die man durch Reduktion des Körpergewichts erzielen könnte. Jene lassen den Eindruck entstehen, dass man durch eine überproportional hohe Gewichtsabnahme einen neuen Fabelweltrekord aufstellen müsste, was natürlich unseriös ist. Bei allem Streben nach neuen Bestzeiten und Top-Platzierungen darf nicht vergessen werden, dass eine zu schnelle Gewichtsabnahme über die hormonellen Regelkreisläufe zu einer Verminderung von Wachstumshormonen führt, und das wirkt sich kontraproduktiv auf das Training aus.

Welche Methoden kommen zum Einsatz?
Ich habe zu diesem Thema schon mehrfach Referate vor Ringern gehalten. Es gibt Studien, die eindeutig zeigen, dass das extreme „Gewicht machen“ von bis zu acht Kilogramm an einem Tag zu einem solchen Kraftverlust führt, dass der Athlet lieber eine Gewichtsklasse höher kämpfen sollte. Aber Letzteres wäre ein Kampf gegen Windmühlen und jahrzehntelange Traditionen. Kampfsportler setzen hier auf Wasserverluste durch das Radfahren im Schwitzanzug mit anschließendem Saunagang, ohne auch nur einen Tropfen zu trinken. Hinzu kommt im Vorfeld eine nahezu vollständige Kohlenhydrat- und Fettabstinenz. All diese Methoden würden im Triathlon definitiv nach hinten losgehen. Sollte das Körperwicht in einer Ausdauersportart ein Problem darstellen, so empfehle ich, eine Gewichtsreduktion lange vor den Hauptwettkämpfen zu erzielen. Ich persönlich würde den Fettgehalt in der Nahrung zurückschrauben und ausreichend Eiweiß aufnehmen (1,8 g/Tag/kg Körpergewicht).

Und welche Risiken können bei der Gewichtsreduktion auftreten?
Aus eigenen Beobachtungen und meiner Erfahrung als Arzt habe ich festgestellt, dass die Gefahr von Essstörungen im Ausdauersport insgesamt gesehen deutlich höher ist als in der Normalbevölkerung. Untersuchungen im Ausdauersportbereich zeigen, dass Essstörungen umso mehr auftreten (können), je länger die Distanzen werden. Auch wenn Frauen eher zu Essstörungen neigen, gibt es auch unter den männlichen Sportlern genügend prominente Beispiele für eine manifeste Anorexie (Magersucht). Es scheint zu sein, dass sich die Körperdaten von Kurz- und Langdistanzlern nicht signifikant unterscheiden. Dies wird auch dadurch untermauert, dass sich die Körpermaße nicht signifikant ändern, wenn ein Athlet auf die längeren Distanzen wechselt. Interessanterweise ist vor Kurzem eine Studie veröffentlicht worden, welche die Körpermaße der heutigen Athleten auf der Kurzdistanz mit denen aus den Neunzigern vergleicht: Hier geht die Tendenz eindeutig zu den dünneren „Läufertypen“, wie ein Vergleich von Miles Stewart mit den Brownlee-Brüdern verdeutlicht. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass damals auf der olympischen Distanz das Windschattenfahren noch verboten war.

Welche Reaktionen treten im menschlichen Körper auf, wenn bei erhöhter körperlicher Belastung die Energiezufuhr reduziert wird?
Wie bereits erwähnt, sind die Hormone der Fettzellen an der Regulation des Energiehaushaltes beteiligt. Gleichzeitig ist auch der Energiehaushalt sehr eng mit dem Immunsystem gekoppelt. Ein ganz wichtiges Hormon ist das Leptin. Dieses ist quasi der Hauptschalter für nahezu alle anderen Hormonsysteme. In einer Studie bei der Rudernationalmannschaft konnte ich vor einigen Jahren nachweisen, dass eine Intensivierung des Trainings zu einer verminderten Leptinproduktion führt, was schließlich in einer Schilddrüsenunterfunktion mündet. Das Gleiche wird beschrieben für Wachstumshormone und Geschlechtshormone. Bei Jugendlichen führt eine extreme Reduktion des Körperfetts zu einer Wachstums- und Entwicklungsverzögerung. Unter Belastung ist ein Energiedefizit ein großer Stressfaktor für den Körper. Dabei werden entzündungsfördernde Hormone freigesetzt, die das Immunsystem schwächen, was eine vermehrte Infektanfälligkeit zur Folge hat.

Herr Dr. Simsch, herzlichen Dank für Ihre Ausführungen.

http://www.tritime-magazin.de/wp-content/uploads/2014/01/christophsimsch.pngDr. med. Christoph Simsch, niedergelassener Arzt in einer allgemeinmedizischen Praxis mit sportmedizinischem Schwerpunkt in Stimpfach bei Crailsheim/Baden-Württemberg ist Facharzt für Allgemein- und Sportmedizin. Der aktive Triathlet Dr. Simsch, der auch zum Anti-Dopingbeauftragten des Baden-Württembergischen Triathlonverbandes berufen wurde, betreibt seit über 30 Jahren Leistungssport.