Yoga und mentales Trainig auf dem Rad – wie soll das funktionieren? Doris Kessel, Yogalehrerin und Triathletin, hat es ausprobiert und schreibt darüber.
Weißt du, es gibt soviel Literatur, darüber welche Yogaübungen gut für den Ausdauersport sind. Vorher und Nachher. Aber keine, die beides gleichzeitig miteinander verbindet. Im mentalen Training ist es ähnlich. Deshalb schreibe ich darüber. Weil ich die Dinge gerne miteinander verbinde. Und was nützen die ganzen wissenschaftlichen Wirksamkeitsstudien, wenn ich nicht weiß, wie ich es in der Praxis direkt, einfach und pragmatisch umsetzen kann?
Genau deshalb probiere ich immer wieder neue Dinge aus. Was gut funktioniert und was nicht. Auf meiner Homepage blogge ich zum Beispiel schon über das Thema Laufen und Yoga und heute möchte ich hier einen Beitrag über Yoga und mentales Training auf dem Rad schreiben.
Wichtig: Du solltest dein Rad gut beherrschen und die folgenden Übungen NICHT im vielbefahrenen Straßenverkehr machen, sondern da, wo kaum Verkehr ist. Und die Dehnübungen nicht in der Gruppe. Safety first.
Übung: Katze & Kuh
In vielen Yogastunden wird immer wieder auf diesen Standard zurückgegriffen: Du bewegst im Vierfußstand, mit der Ausatmung, deine Wirbelsäule Richtung Decke. Wie eine ärgerliche Katze. Und mit der Einatmung in eine Hängebrücke, wie eine faule Kuh.
Das ganze kannst du wunderbar auf dem Rad machen. Vor allem, wenn es leicht abwärts geht und du nicht treten musst. Geh aus dem Sattel und schiebe dein Steißbein nach hinten. Bring deine Arme in eine Streckung. Forme einen Entenpo mit leichten Hohlkreuz. Wenn du den Weg im Blick behalten kannst. nimm gleichzeitig deinen Kopf leicht nach hinten und atme ein. Mit dem Ausatem gehst du in die Gegenbewegung. Zieh dabei dein Kinn Richtung Brust, dein Schambein zum Bauchnabel und komm wieder in die ärgerliche Katze. Lass dich von deinem Atem führen. Entspanne dabei deinen Kiefer und löse die Zunge vom Gaumen. Führe die Mobilisation so lange durch, wie es dir gut tut.
Übung: Baby-Kobra
Eine wunderbare Übung, um den Brustkorb zu weiten und vorne aufzudehnen. Im Liegen achtest du auf deine beiden unteren Bandhas (Körperverschlüsse). Auch das, kannst du am Rad machen. Press dich fest in den Sattel, was wiederum deine Stabilität unterstützt. Hebe dein Brustbein. Führe die Ellenbogen von der Tendenz Richtung Körper. Schaff Weite im Schulterbereich. Am Rennrad kannst du das unterstützen, wenn du deine Hände seitlich am Lenker hast und die Unterarme leicht nach oben drehst. Mach dich richtig fest und spüre gleichzeitig die Dehnung im Brustkorb. Vor allem kannst du so noch besser atmen. Dann entspann alles wieder.
Übung: Schulter-Nacken-Dehnung & Rotation
So, jetzt haben wir die Wirbelsäule in eine sanfte Vorwärts- und Rückwärtsbeuge gebracht. Die kann aber noch viel mehr. Zum Beispiel einen Seitstretch (Lateralflexion), aber ich glaube, das hast am Rad sowieso schon ausprobiert, indem du deinen Oberkörper wie eine Schlange von links nach rechts und wieder zurück bewegst, um dich zu lockern.
Einer der wichtigsten Dimensionen wird häufig vergessen – die Rotation. Leg dafür deinen rechten Arm auf deinen Rücken (siehe Aufmacherbild). Handinnenseite zeigt weg von dir. Dann schau mit dem Ausatmen über deine rechte Schulter. Mit dem Einatmen kommst du zurück zur Mitte. Mit dem nächsten Ausatmen wechselst du die Seite. Mach es so oft, wie es dir gut tut. Du kannst auch deinen Kopf seitlich kippen, um die Dehnung intensiver zu gestalten.
Probiere auch mal aus, wie es anfühlt, wenn du den linken Arm vom Lenker löst und die Außenseite der linken Hand mit leichten Gegendruck auf die rechte Hand am Lenker lenkst. Spür die Dehnung in der Schulter und im Nacken. Du kannst die Dehnung verstärken, wenn du deinen Kopf leicht nach rechts kippst.
Übung: Herabschauender Hund & Wadenstretch
Hier wäre auch eine leicht abfällige Strecke gut. Geh aus dem Sattel. Nimm deine Pedale vorne und hinten auf gleiche Höhe. Schieb deine Fersen Richtung Boden. Strecke deine Arme. Entspann deinen Nacken, nimm dafür den Kopf etwas tiefer. Schieb dein Steißbein nach hinten oben. Genieße die Dehnung deiner rückwärtigen Faszienlinie, von den Fersen bis zum Haaransatz.
Nackenentspannung
Lass deinen Kiefer immer wieder ganz weich sein und löse die Zunge vom Gaumen. Je mehr du deine Zähne zusammen beißt, desto mehr zieht sich die Verspannungskette nach unten über Nacken, Schulter usw. Mit dem Einatmen drehst du deinen Kopf nach links. Mit dem Ausatmen wieder zur Mitte. Einatmen, nach rechts. Ausatmen zu Mitte. Mach es gaaaaanz langsam. Und wenn du denkst, das ist schon langsam, mach es noch langsamer.
Mentaltraining auf dem Rad – den Fokus behalten
Beim Fahren in der Radgruppe kannst du sehr gut mental trainieren. Gerade bei größeren Gruppen ist deine Konzentrationsfähigkeit gefragt: Auf der einen Seite dich auf DICH zu konzentrieren, denn jede Unachtsamkeit wirkt sich auf die anderen aus – und auf der anderen Seite, alles andere um dich herum wahrzunehmen. Wachsam zu sein. Und wenn die Gedanken abschweifen, diese immer wieder zurückzuholen in den aktuellen Moment. Vor allem beim Windschattenfahren ist es essentiell das Hinterrad vor dir immer im Fokus zu haben.
Im Yoga nennt man das „Meditation auf ein Objekt“. Deine ganze Aufmerksamkeit richtet sich auf ein Objekt. Vielen ist nicht bewusst, dass Meditation dein völliges „Wachsein“ trainiert. Du bist absolut präsent und klar. Darin liegt die wahre Kraft, weil du dich nicht verlierst – „Energy goes where attention flows“.
Kraftvoll gegen den Wind
Nichts kann zermürbender sein als permanenter Gegenwind. Die Sache ist nur die: Du kannst den Wind nicht ändern. Aber deine Einstellung dazu. Das ist wie mit Menschen, die einen aufregen.
Und zusätzlich kannst du noch die Kraft deiner Visualisierung nutzen. Welche Farbe kommt dir spontan in den Sinn, die dir jetzt Energie geben würde? Hast du eine? Gut. Dann stell dir vor, dass der Wind genau diese Farbe hat. Geh noch einen Schritt weiter. Stell dir vor, wie du diese Farbe tief in dich einatmest, bis in jede deiner Zellen. Mit jedem Windstoß lädt dich dieser auf, tankt dich voll mit Energie.
Und es wird noch besser: Der Wind bringt die Farbe in dir zum Leuchten. Mehr und Mehr. Er ist dein Freund. Er gibt dir unendliche Kraft. Und deshalb liebst du ihn so sehr. Diesen fu**ing hammerkraftvollen Wind ;-).
Angst-Blockade beim Bergabfahren
Als Radguide habe ich oft erlebt, dass es vielen Athleten, vor allem Frauen, leichter fällt, die Berge zügig hochzutreten, als runterzufahren. Und es ist auch unerlässlich, dass du die Abfahrten in DEINER Geschwindigkeit fährst. Lass dich von niemanden unter Druck setzen. Wenn du dich sicherer fühlst, wirst du automatisch schneller.
Um dich via Akupressurpunkte zu stärken, kannst du VOR der Abfahrt folgende Übungen machen: Lege eine Hand flach auf dein Brustbein und reibe kleine Kreise. Atme dabei regelmäßig weiter. Mach es ein paar Atemzüge. Nimm die Hand wieder an den Lenker und bleib bei deinem Atem. Stell dir dabei vor, wie du deine Emotionen von Distanz aus beobachtest. Nur beobachten. Nicht bewerten. Nicht darin eintauchen und dich davon vereinnahmen lassen. Wiederhole das Kreisen. Wiederhole das Atmen und Beobachten.
Dann klopfe mit den linken Fingerkuppen unterhalb des linken Schlüsselbeins. Lass den Atem fließen. Wechsle nach ein paar Atemzügen die Seite, um die einseitige Belastung so kurz wie möglich zu halten.
Atme weit und tief in den Bauch hinein. Wenn du die Ujjay-Atmung aus dem Yoga beherrschst, dann kannst du sie gerne als dritten Baustein anschließen lassen. Das wird dich noch mehr beruhigen. Mach sie sanft. und mach sie extrem achtsam oder lieber nicht, wenn du einen niedrigen Blutdruck hast.
Übe so lange und so oft, wie es dir gut tut. Vor allem sei geduldig mit dir, wenn die Emotion nicht gleich auf Knopfdruck verschwindet. Je mehr du sie loshaben willst, desto penetranter wird sie bleiben.
Und jetzt wünsche ich dir viel Spaß beim Ausprobieren! Und wer weiß, vielleicht fallen dir noch ganz andere verrückte Dinge ein, die man miteinander verbinden kann. Deiner Phantasie sind keine Grenzen gesetzt.
Text: Doris Kessel
Foto: privat