Myoreflextherapie im Triathlon

Dysbalancen erkennen, ausgleichen und vermeiden. Profi-Triathletin Daniela Sämmler, die den Ironman Hamburg 2017 gewinnen konnte, zeigt mit ihrer Physiotherapeutin Nicole Beulmann effektive Dehnübungen.

Triathlon gehört im Leistungs- und ambitionierten Hobbysport mit zu den trainingsumfangreichsten Sportarten. Der oft schon umfangreiche Trainingsplan lässt nicht immer den Platz und die Motivation für gezieltes Flexibilitätstraining. Jede Sportart hat ihre unverkennbaren Bewegungen, die immer wiederholt werden. Einige Muskelgruppen werden mehr trainiert als andere, und das kann zu Dysbalancen führen.

Daniela Sämmler beim Radtraining

Verletzungen vermeiden

Da im Triathlon gleich drei verschiedene Sportarten einzeln und im Zusammenschluss trainiert werden sollen, geht es auch darum, mit Hinblick auf die Steigerung der Leistungsfähigkeit nicht nur die Bewegungsabläufe zu optimieren, sondern auch Verletzungen zu vermeiden. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die für eine Disziplin zu belastende Muskelkette im ungünstigsten Fall ein muskuläres Problem in einer anderen Disziplin hervorrufen kann. Anhand einiger Beispiele erkennen Sie die Bedeutung und Notwendigkeit, sich die Zeit für äußerst effektive KiD-Übungen (Kraft in der Dehnung) in funktionellen Muskelketten zu nehmen.

Beim Radfahren ist die vordere Muskelkette stetig „angenähert“ (verkürzt), insbesondere der Hüftbeuger: Er gehört zu den kräftigsten Beugern des Hüftgelenks und unterstützt aufgrund seiner Anatomie bei aktivierter Rückenmuskulatur die Bauchmuskeln bei der Rumpfbeuge. Er ist beim Radfahren stetig aktiv und immer „angenähert“, was für seine kraftvolle Aktivität in dieser Disziplin auch nötig ist, aber gleichzeitig auch zu einer Verkürzung führt. Ein verkürzter Muskel wirkt wiederum als „Bremse“ für seinen Gegenspieler. In diesem Fall die Hüftstrecker und Abduktoren, die beim Laufen neben einem aufgerichteten Becken auch für einen starken Abdruck und einen ökonomischen und dynamischen Laufstil sorgen, sodass man sich nicht „sitzend“ fortbewegt.

Muskelschlingen und kinetische Ketten

Im vorherigen Beispiel wurde nur eine Muskelgruppe betrachtet. Im gesamten Bewegungssystem ist das Zusammenspiel jedoch weitaus komplexer. Betrachten wir unsere Muskulatur einmal als funktionelles Kettensystem. Was bedeutet das? Muskeln, die anatomisch nicht direkt miteinander verbunden sind, arbeiten dennoch im Dienste einer Bewegungsausführung in einer Muskelkette zusammen. Ein Muskel hat nicht nur Wirkung auf sein unmittelbar bewegendes Gelenk, sondern vielmehr in der gesamten Muskelschlinge, die daran beteiligt ist, eine Bewegung auszuführen. Die geordnete Zusammenarbeit der jeweiligen Muskeln wird vom zentralen Nervensystem kontrolliert und koordiniert. Die Kombination von zusammenwirkenden Muskelgruppen ist vielfältig und wechselt von Anforderung zu Anforderung. Dabei muss ein Zusammenspiel der synergistischen Kette und der antagonistischen Kette herrschen. Das bedeutet, dass die ausführende Bewegungskette im stetigen Abgleich mit seinem Gegenspieler stehen muss, also in der gesamten Muskelschlinge.

Bei der Abdruckphase in der Laufbewegung beispielsweise gehört zu einem energiereichen Abdruck ein Kniehub auf der Gegenseite, ebenso ein schwungbringender Armpendel und ein aufgerichteter Rumpf. Wird eine Komponente stilistisch bewusst verändert, zum Beispiel durch einen einseitig verminderten Armpendel, so fällt das dem Athleten deutlich auf, denn der gesamte Bewegungsablauf fühlt sich unrund und gestört an. Im Falle eines verkürzten Muskels jedoch ist unser Körper bis zu einem gewissen Maße in der Lage, dies zu kompensieren, ohne dass es in unser Bewusstsein erlangt. Dadurch schleichen sich funktionelle Veränderungen bis hin zu dauerhaften Dysbalancen und Verletzungen ein. Betrachtet man das Ganze physikalisch und ersetzt jeden Muskel in seinem anatomischen Verlauf als Kraftvektor und Gelenke als Drehachse, so stellt man fest, dass jede Veränderung eines einzelnen Vektors eine Veränderung im gesamten Kettensystem erzeugt. So sorgt ein verkürzter Hüftbeuger für eine Veränderung im Drehmoment Becken, das Becken ist nach vorne gekippt und nicht aufgerichtet. Der Körper kompensiert dies mit weiterlaufenden Bewegungen bis hin zur Halswirbelsäule und zu den Füßen.

Gekipptes Becken und aufgerichtetes Becken

Daniela mit gekippten Becken
Daniela mit aufgerichtetem Becken

Zusammenhänge verstehen

In dem vorangegangenen Beispiel sind bereits der Hüftbeuger und seine Gegenspieler im Sinne der Beckenaufrichtung erwähnt. Da es bei einer Bewegungsausführung nicht ausreicht, nur ein Segment zu beleuchten, sollte also die gesamte Beuger- und Streckerkette bei der Laufbewegung betrachtet werden. Der Hüftbeuger ist beim Kniehub nur ein Teil der gesamten Beugerkette. Sie verläuft diagonal über den Rumpf zum gegenüberliegenden Arm, die Streckerkette demzufolge auf der Abdruckseite. Beide Muskelketten arbeiten zeitgleich und sind auf einen stetigen Abgleich des zentralen Nervensystems angewiesen, um reibungslos zu funktionieren. Während beide Seiten in ihrer jeweiligen Funktion aktiv sind, muss zeitgleich ihre jeweilige antagonistische Kette die jeweilige Bewegung zulassen. Verändert sich nun auch nur eine Komponente in der Muskelschlinge, egal, ob antagonistisch oder synergistisch, hat das Einfluss auf die gesamte Ökonomie des Bewegungsablaufes. So kann ein verkürzter Hüftbeuger rechts  beispielsweise auf der gegenüberliegenden Seite ein Schulterproblem hervorrufen.

Vordere Muskelkette

Nicht nur eine trainingsbedingte Belastung hat Einfluss auf unsere Muskulatur, sondern auch die alltägliche. Die wohl typischste Belastung ist das Sitzen. Nach einem klassischen Tag im Büro ist unsere Muskulatur den Großteil des Tages in der „Sitzschlinge“ aktiv, und es kommt zu Verkürzungen und Verspannungen der betroffenen Bereiche (Nackenmuskeln, Kopfwender, Kaumuskulatur, kleiner und großer Brustmuskel, Ellenbogenbeuger, Hand- und Fingerbeuger, Bauchmuskulatur, Hüftmuskulatur, Adduktoren, Kniebeuger sowie Fuß- und Zehenmuskulatur). Und interessanterweise ist genau die gleiche Muskelkette auch beim Radfahren aktiv. Je häufiger eine Muskelkette in Annäherung ist, desto stärker kommt es dabei zu Verkürzungen. Ohne eine Aktivierung in die Gegenrichtung kommt es zu dauerhaften Bewegungseinschränkungen und Beschwerden.

Warum also Kraft in der Dehnung (KiD)?

Da unser muskuläres System im Bewegungsverbund funktioniert und nicht nur auf einer Gelenkebene, ist es also auch am sinnvollsten, den Verbund auch im Ganzen gleichzeitig funktionell zu kräftigen und zu dehnen. Je mehr Muskelgruppen in funktionellen Bewegungsketten miteinander aktiviert werden und je besser dabei der der Bewegungsumfang – Stichwort „full range of motion“ – ist, umso effektiver. Die passive und isolierte Dehnung eines einzelnen Muskels hinterlässt Hirnforschern zufolge nur wenige Spuren im Gehirn und somit keine nachhaltige Verbesserung. Bei einer KiD-Übung wird im Gegensatz zu einem gewöhnlichen Stretching die Muskulatur in ihrer gesamten Kette gedehnt und, wie der Name bereits vermuten lässt, in der Dehnung aktiviert. Die nachfolgenden KiD-Übungen in funktionellen Muskelketten sind nicht nur äußerst effektiv, sie können auch jederzeit an jedem Ort ausgeführt werden.

Übung 1: Schwerpunkt Hüftbeuger

Dehnung des Hüftbeugers

 

Der Schwerpunkt der Dehnung liegt auf dem Hüftbeuger im Zusammenspiel mit der Rumpf- und vorderen Oberschenkelmuskulatur. Die Hüfte wird weit geöffnet, versuchen Sie aber dennoch das Becken nach vorne zu schieben (Po-Muskulatur anspannen). Der Oberkörper ist leicht nach hinten geneigt, die Arme sind nach oben gestreckt und die Handinnenflächen zeigen dabei nach vorne, Schultern dabei dennoch locker lassen. Das auf dem Boden liegende Knie, der Unterschenkel und der Fuß werden in den Boden gedrückt, und damit ist die Muskelkette in der Dehnung aktiviert. Diese Position 6–8 tiefe Atemzüge halten, danach Seite wechseln.

Übung 2: Schwerpunkt vordere Oberschenkelmuskulatur

 

Dehnung der vorderen Oberschenkelmuskulatur

 

Wie bei der ersten Übung sind die Rumpfmuskulatur und der Hüftbeuger integriert, der Schwerpunkt liegt jedoch mehr auf der vorderen Oberschenkelmuskulatur. Das Spielbein wird am Fußrücken gehalten und Richtung Gesäß gezogen, beide Kniegelenke bleiben auf derselben Höhe und das Becken wird leicht nach vorne geschoben (Po-Muskulatur anspannen). Die Wirbelsäule wird aufgerichtet und der gegenüberliegende Arm gehoben, Schultern locker lassen. Während der Dehnung drückt der gehaltene Fuß zur Aktivierung der Muskelkette gegen die Hand. Diese Position 6–8 tiefe Atemzüge halten, danach die Seite wechseln.

Übung 3: Öffnung der vorderen Rumpf- und Halsmuskulatur

Öffnung der vorderen Rumpf- und Halsmuskulatur

 

Die Hände werden aus der Bauchlage heraus unterhalb der Schultern aufgestellt, den Oberkörper langsam nach oben drücken. Die Beine bleiben auf dem Boden liegen, während das Becken leicht vom Boden angehoben werden kann. Versuchen Sie dabei, den Brustkorb weit zu öffnen und die Schultern locker zu lassen. Zur Aktivierung der Muskelkette drücken Sie die Beine sanft in den Boden. Diese Position 6–8 tiefe Atemzüge halten und langsam aus der Position zurück in die Bauchlage ablegen.

 

Übung 4: Öffnung der hinteren Rumpf- und Halsmuskulatur

 

Öffnung der hinteren Rumpf- und Halsmuskulatur

 

Diese Übung für die hintere Muskelkette ist die ergänzende Ausgleichbewegung zur vorhergehenden Übung. Stellen Sie im stabilen Stand beide Füße etwa hüftbreit auseinander, halten Sie die Knie dabei möglichst gestreckt und neigen Sie den Oberkörper soweit wie möglich nach vorne. Umfassen Sie dabei Ihre Beine, der Kopf hängt locker nach unten, Schulter und Nackenbereich bleiben entspannt. Die Fußspitzen drücken aktiv in den Boden, ohne dass die Fersen abheben. Als Ausgleichsübung reichen in dieser Position 3–4 tiefe Atemzüge.

Ergänzende Informationen zum Thema „Myoreflextherapie“ findet man im Internet unter:
myoreflextherapie.de und trainingsrausch.de

 

Die Autorin Nicole Beulmann ist Physiotherapeutin, Myoreflextherapeutin und Sportphysiotherapeutin im Physiopoint Darmstadt (physiopoint-darmstadt.de). Ihre Spezialgebiete liegen in den Bereichen Bewegungsanalyse & Leistungsoptimierung, Verletzungsprophylaxe & Rehabilitation und Unterstützung der Regeneration.

 

Fotos: Tom Tittmann | soq.media